Verbesserter Zugang zu Arzneimitteln: Die entscheidende Rolle von Risiken in der Lieferkette
Dieser Artikel wurde zuerst auf INSEAD Knowledge veröffentlicht, dem Portal mit den neuesten Erkenntnissen und Ansichten der Business School for the World. Urheberrecht INSEAD 2024.
Als die Apotheker*innen in Frankreich am 30. Mai massenhaft ihre Geschäfte verließen um auf die Straße zu gehen, ging es nicht nur um ihre Gehälter und Perspektiven. Ihr Streik - der erste seit 10 Jahren - zeigte ein weitaus größeres Problem auf.
Covid-19 hat die Aufmerksamkeit auf die Arzneimittelknappheit gelenkt. Doch das Problem besteht auch dann, wenn es keine großen Nachfrage- oder Angebotsschwankungen gibt. In Frankreich ist bekannt, dass Tausende von Arzneimitteln, manchmal monatelang, knapp sind. Die unzuverlässige Verfügbarkeit von Arzneimitteln bedeutet, dass die Apotheker*innen viel Zeit und Mühe aufwenden müssen, um alternative Lösungen für die Patient*innen zu finden.
Arzneimittelknappheit ist ein zunehmendes Problem in Europa und anderen Teilen der Welt und stellt nicht nur die Angehörigen der Gesundheitsberufe vor große Herausforderungen, sondern gefährdet auch die öffentliche Gesundheit, da sie eine rechtzeitige und optimale Behandlung unmöglich macht. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Unterbrechung der Patientenversorgung. In England haben Apotheker*innen davor gewarnt, dass die Arzneimittelknappheit ein so kritisches Ausmaß angenommen hat, dass Patienten unmittelbar geschädigt oder sogar getötet werden könnten. Wichtige Medikamente zur Behandlung von Typ-2-Diabetes, ADHS und Epilepsie waren in den letzten Monaten im Vereinigten Königreich nicht mehr erhältlich. Außerhalb Europas ist Amoxicillin seit Oktober 2022 in der Datenbank der US-Arzneimittelbehörde FDA als Arzneimittelmangel aufgeführt.
Es braucht eine strukturelle, systemische Lösung
Tatsächlich sehen sich viele Länder seit Jahren mit strukturellen Herausforderungen konfrontiert, wissen aber nicht, wie sie diese lösen können. In den Niederlanden belaufen sich die geschätzten Gesamtkosten der Arzneimittelknappheit im Jahr 2023 auf etwa 220 Millionen Euro. Der Mangel an Arzneimitteln ist ein kritisches Problem, das eine langfristige Lösung erfordert.
Leider werden die meisten Engpässe nur reaktiv bewältigt, ohne die Bedeutung des Risikos in der Lieferkette zu berücksichtigen. Es gibt nur unzureichende Belege dafür, was funktioniert, und unter den Beteiligten herrscht kaum Einigkeit über die Ursachen von Arzneimittelknappheit. Insgesamt mangelt es an einer Systembetrachtung: Die Beteiligten schlagen möglicherweise Maßnahmen vor, die für ein Medikament kurzfristig und in einem bestimmten Land gut funktionieren, ohne die langfristigen Auswirkungen auf andere Medikamente und andere Regionen zu berücksichtigen.
Diejenigen, die mit der Suche nach Lösungen betraut sind, befinden sich oft in einer Zwickmühle: Ein hohes Maß an Schutz vor Engpässen ist teuer, während ein zu geringer Schutz die Qualität der Patientenversorgung beeinträchtigen kann. In der Praxis werden in der Regel pauschale Maßnahmen für alle Arzneimittel ergriffen, was jedoch nicht immer machbar oder kosteneffizient ist. So würde die Bevorratung zwar ein hohes Maß an Schutz vor Arzneimittelknappheit bieten, doch wäre es für die Regierungen unerschwinglich, alle Arzneimittel auf Vorrat zu lagern.
Wir brauchen eine einfache Methode, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Arzneimitteln zu verdeutlichen und zu zeigen, dass dies zu unterschiedlichen Maßnahmen bei der Behebung von Engpässen führen würde.
Ein zweidimensionaler Blick auf das Problem
Gemeinsam mit Forschenden von fünf Universitäten und dem Norwegischen Institut für öffentliche Gesundheit haben wir eine vierjährige Studie* über Arzneimittelknappheit in Belgien, Frankreich, Norwegen, Schweden, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich durchgeführt. Im Rahmen der Studie haben wir die Risiko-/Kritikalitätsmatrix (RCM) entwickelt, die aus zwei Dimensionen besteht: dem Lieferkettenrisiko und der medizinischen Bedeutung. Unsere Matrix bietet einen pragmatischen Rahmen für die Klassifizierung von Arzneimitteln und für die Entscheidungsfindung.
Die medizinische Kritikalität bezieht sich auf den klinischen Wert eines Arzneimittels. Lebensrettende Medikamente sollten immer als hoch kritisch eingestuft werden (z. B. Insulin, Blutverdünner, Antibiotika zur Behandlung von Sepsis usw.), während Medikamente, die den Lebensstil verbessern, eher eine geringe medizinische Relevanz haben. Weitere Faktoren für die Relevanz sind die Anzahl der Menschen, die auf das Medikament angewiesen sind, und die Frage, ob es gute Ersatzprodukte gibt.
Die andere Dimension, das Lieferkettenrisiko, erfasst die Wahrscheinlichkeit von Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage. Die Wahrscheinlichkeit von Nachfrageschocks, die Vernetzung und Beweglichkeit der Lieferkette sowie die Verfügbarkeit von Informationen und Koordination sind die entscheidenden Faktoren.
Unsere Matrix fordert die relevanten Akteure - insbesondere Regierungen und internationale Organisationen, die für die Sicherstellung des Zugangs zu Arzneimitteln zuständig sind - auf, die dynamische Wechselwirkung zwischen medizinischer Kritikalität und Lieferkettenrisiko zu berücksichtigen. In der Praxis ist ein multidisziplinäres Team mit den entsprechenden Fähigkeiten und Ausbildungen erforderlich, um zu beurteilen, wo jedes Medikament steht.
Selbst wenn ein Medikament genau charakterisiert und in den relevantesten Quadranten eingeordnet ist, muss das interdisziplinäre Team den Kontext, die Vorschriften und die Kosten berücksichtigen, um die am besten geeignete Maßnahme zu bestimmen - eine, die weder zu teuer ist noch die Patientenversorgung gefährdet.
Die Bewältigung des Mangels an Arzneimitteln, die als medizinisch kritisch eingestuft werden, erfordert eine wirksame und umfassende Kontrolle, die eine kontinuierliche Überprüfung der gesamten Lieferkette und ein schnelles präventives Handeln beinhalten kann. Strategien zur Behebung von Engpässen bei Arzneimitteln, die als weniger kritisch eingestuft werden, wie z. B. Medikamente für erektile Dysfunktion, konzentrieren sich dagegen auf die Effizienz. Gelegentliche Engpässe wären im Gegenzug zu erheblichen Kosteneinsparungen akzeptabel.
Bei Arzneimitteln mit geringem Risiko für die Lieferkette sollten die Lieferketten überwacht werden, wobei der Vorbereitung auf unwahrscheinliche Engpässe Vorrang eingeräumt werden sollte, und es sollten Reaktionsmechanismen vorhanden sein, um Engpässen zu begegnen, falls sie auftreten. Bei Arzneimitteln mit hohen Risiken in der Lieferkette hat die Schadensbegrenzung Vorrang. Diese sollte sich darauf konzentrieren, das Risiko von Engpässen durch Maßnahmen wie Vorratshaltung oder Verlagerung der Produktion zu verringern, während gleichzeitig die Lieferketten überwacht und reaktive Systeme eingerichtet werden.
Angemessene Interventionen
Je nachdem, wo das Medikament in der Matrix eingeordnet ist, können die am besten geeigneten Maßnahmen bestimmt werden, je nachdem, ob der Schwerpunkt auf der Überwachung oder der Abschwächung und der Effizienz oder der Effektivität liegt. Mögliche Maßnahmen für jede Klassifizierung:
- Monitoring & Efficiency: Einrichtung eines Überwachungssystems zur Aufrechterhaltung einer schlanken Lieferkette und Entwicklung von Notfallplänen, um auf unwahrscheinliche Engpässe zu reagieren.
- Mitigation & Efficiency: Nutzung datengestützter Prognosen zur Optimierung der Lagerbestände (bei gleichzeitiger Abwägung von Knappheit und Kosten) und Diversifizierung der Lieferantenbasis.
- Monitoring & Effectiveness: Einsatz von Schnellreaktionsprotokollen und Überwachungssystemen sowie Einrichtung von Kooperationsnetzen zur Gewährleistung der gemeinsamen Wirksamkeit.
- Mitigation & Effectiveness: Anlegen von Vorratslagern und kontinuierliche Investitionen zur Verringerung der Risiken in der Lieferkette, z. B. Verlagerung der vorgelagerten Produktion an nahe gelegene Standorte.
Die Matrix ist keineswegs ein statisches Instrument. Sie stellt den ersten Schritt in einer kontinuierlichen Verbesserungsschleife dar, die sicherstellt, dass die Maßnahmen auch bei sich ändernden Bedingungen wirksam bleiben und aufeinander abgestimmt werden. Wenn beispielsweise eine Pandemie ausbricht, kann die Nachfrage nach Medikamenten, die bisher als medizinisch unbedeutend galten (wie Paracetamol), schnell kritisch werden. Oder wenn ein Markenmedikament zu einem Generikum wird, ändert sich die Struktur der Lieferkette (die Anzahl der Lieferanten und deren geografische Lage/Konzentration), was wiederum das Risiko der Lieferkette verändern kann.
Ein Instrument zur Förderung von Abstimmung und systemischer Betrachtung
An den Arzneimittelversorgungsketten sind viele Akteure mit potenziell sehr unterschiedlichen Perspektiven, Anreizen und Zielen beteiligt. Natürlich können wir davon ausgehen, dass die Meinungen von Ärzten, Händlern, Herstellern und anderen Akteuren stark voneinander abweichen. Ein System kann jedoch nicht richtig funktionieren, wenn die Beteiligten nicht an einem Strang ziehen und sich nicht auf ein vereinbartes Vorgehen festlegen.
Wenn man die verschiedenen Interessengruppen in einer offenen Diskussion auf der Grundlage der Matrix zusammenbringt, kann das gegenseitige Verständnis gefördert werden. Dies führt zu konstruktiveren Verhandlungen und einer besseren Abstimmung, die für die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses der erforderlichen Ressourcen, des Zeitplans, der Zuständigkeiten und der KPIs unerlässlich sind.
Dieser Ansatz hat sich für die niederländische Regierung als nützlich erwiesen, die unsere Analysen zur Vorratshaltung bei der Überarbeitung ihrer Politik zur Vorratshaltung von Arzneimitteln verwendet hat. Seit dem 1. Januar dieses Jahres gilt die Mindestvorratsanforderung nur noch für Arzneimittel, die weniger als 15 Euro pro Packung kosten und bei denen der Vorrat etwa dreimal so häufig ausläuft wie bei teureren Medikamenten.
Wenn verschiedene Interessengruppen in der Lage sind, über ihren eigenen Tellerrand und ihre eigenen Interessen hinauszublicken, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die am besten geeignete Maßnahme ermittelt werden kann. Dies kann auch Möglichkeiten zum Lernen und zur Zusammenarbeit bieten und den Zugang zu Medikamenten auf breiterer, regionaler Ebene verbessern. Island, Norwegen und Dänemark zum Beispiel sind kleine Länder, die oft Schwierigkeiten haben, die Versorgung sicherzustellen. Gemeinsam sind sie jedoch stärker; die Zusammenarbeit zwischen diesen nordischen Ländern führt zu mehr Wissen und Kaufkraft und damit zu einer Verringerung des Versorgungsrisikos.
Die Komplexität und manchmal Undurchsichtigkeit der Lieferketten von Arzneimitteln erfordert einen Systemansatz. Unsere Matrix bietet ein einfaches Instrument mit konkreten Schritten, die den Beteiligten (z. B. einer Regierung oder einem branchenübergreifenden Netzwerk) dabei helfen, zu einer Systembetrachtung überzugehen. Jede Anstrengung, mehr Beweise zu sammeln, die vielen Interessengruppen besser aufeinander abzustimmen und zu einer Systembetrachtung überzugehen, wird sich auszahlen.
* Die Forschung ist eine Zusammenarbeit zwischen: Thomas Breugem, Universität Tilburg; Iman Parsa und Luk Van Wassenhove, INSEAD; Kim van Oorschot und Marianne Jahre, KLU; Christine Oline Årdal, Norwegian Institute of Public Health; Nonhlanhla Dube und Kostas Selviaridis, Lancaster University; und Harwin de Vries und Stef Lemmens, Rotterdam School of Management.
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Prof. Dr. Marianne Jahre
Dr. Marianne Jahre is Dean of Research and Professor of Operations Management at KLU. Her research focuses on supply chain risk management, humanitarian logistics, and medicine supply chains. With a Ph.D. from Chalmers University of Technology, she collaborates with universities and organizations globally. Prof. Jahre is a pioneer in her field, integrating interdisciplinary methods to tackle sustainability and crisis management in supply chains.
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