Die unterschätzte Rolle der Logistik auf dem Weg zu Net Zero
Dieser Artikel wurde zuerst auf Carbon Brief veröffentlicht, der Website, die auf die neuesten Entwicklungen in den Bereichen Klimawissenschaft, Energie und Klimapolitik spezialisiert ist.
Durch die Logistikbranche werden große Mengen Treibhausgase freigesetzt. Doch sie spielt auch eine wichtige Rolle für die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft und kann dazu beitragen, unsere Gesellschaft an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. Gleichzeitig sind genau diese Auswirkungen eine echte Bedrohung für die Logistikbranche.
Dennoch berücksichtigen beispielsweise Einschätzungen zum künftigen Transportbedarf selten die logistischen Anforderungen, die damit verbunden sind, die Infrastruktur zu schaffen, die wir für die Nutzung erneuerbarer Energien, die Anpassung an den Klimawandel und die Kohlenstoffdioxidentnahme brauchen. Dabei können wir keines dieser Ziele erreichen ohne eine Logistik, die den Transport der erforderlichen Materialien und Geräte ebenso wie des sequestrierten Kohlenstoffs koordiniert.
Auch in den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), nationalen Klimaplänen und akademischen Forschungsagenden taucht das Thema Logistik nur selten auf. In einer neuen Abhandlung, die ich im International Journal of Logistics Research and Applications veröffentlicht habe, beleuchte ich deswegen die zentrale – und unterschätzte – Rolle der Logistik in Zeiten des Klimawandels.
Logistik und der Klimawandel
Etwa 11-12 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen weltweit gehen aufs Konto logistischer Aktivitäten. Hinzu kommen erhebliche Mengen an schwarzem Kohlenstoff (Ruß), Methan und Kältemittel, die ein deutlich höheres Erderwärmungspotenzial haben als CO2.
Da die Erde sich erwärmt und Länder sich weiterentwickeln, steigt der Kühlbedarf rasant an, insbesondere dort, wo es um die Logistik verderblicher Güter geht. Man geht davon aus, dass der „globale Markt der Kühlkettenlogistik” sich in den nächsten neun Jahren mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 14 Prozent entwickeln wird.
Der Gütertransport verursacht den Löwenanteil der in der Logistik anfallenden CO2-Emissionen, während Lagerung und IT einen vergleichsweise geringen Anteil ausmachen. Die Dekarbonisierung der Logistikbranche ist alles andere als trivial, was nicht zuletzt daran liegt, dass diese immer noch nahezu komplett auf fossile Brennstoffe setzt. Das ist nicht ohne Grund so: Viele der mit Logistik assoziierten materiellen Vermögenswerte – also Fahrzeuge, Schiffe, Lokomotiven, Lagerhäuser, Häfen, Terminals und so weiter – haben eine lange Lebensdauer. Entsprechend viel Zeit braucht es, bis technologische Fortschritte sich hier durchsetzen können.
Gleichzeitig dürfte der weltweite Güterverkehr in den kommenden Jahrzehnten erheblich zunehmen. So erwartet das International Transport Forum einen Anstieg um 100 % von 2019 bis 2050.
Logistiksysteme tragen aber nicht nur zum Klimawandel bei, sie bekommen dessen Auswirkungen auch extrem zu spüren. Ihre große geografische Ausdehnung, die Tatsache, dass sie untereinander verbunden sind, und die Beliebtheit von Just-in-Time-Lieferungen macht sie sehr anfällig für Extremwetterereignisse und deren geophysische Effekte.
Logistik-Vermögenswerte sind vielfältigen Extremwetterereignissen ausgesetzt. Untersuchungen ergeben, dass beispielsweise die Transportinfrastruktur zunehmend von Hitzewellen, Starkregen, Stürmen, Überschwemmungen und Flächenbränden betroffen ist. Eine diesen Monat veröffentlichte Studie zeigt, dass bis 2040 die Lieferketten aller Länder der Welt immer schlimmere „Wetterschocks“ erfahren werden.
Hinzu kommt: Feststehende Sachanlagen befinden sich oft in gefährdeten Gebieten. In England beispielsweise sind wesentlich mehr Lagerhäuser in der obersten Hochwasserrisiko-Kategorie angesiedelt als Geschäfte, Bürogebäude und Fabriken.
Im toten Winkel
Obwohl es dringend nötig wäre, Logistiksysteme und Lieferketten an den Klimawandel anzupassen, befinden sie sich, wie an anderer Stelle zu lesen ist, „im toten Winkel der Transformation”. So bezieht sich beispielsweise der Assessment Report 2022 des IPCC zu Klimafolgen und Anpassung nur ganze drei Mal auf Logistik – und das, obwohl er über 3.000 Seiten umfasst.
Die Anpassungsmaßnahmen im Bereich der Transport- und Logistikinfrastruktur sind ein extrem frachtintensives Unterfangen. So wären beispielsweise Küstenschutzanlagen mit einer Gesamtlänge von 3.600 Kilometer nötig, um 221 der wichtigsten Häfen der Welt vor einem Meeresspiegelanstieg um zwei Meter zu schützen. Eine Studie aus 2016 kommt zu der Einschätzung, dass man allein hierfür 148 Millionen Kubikmeter Beton, 125 Millionen Kubikmeter Bruchstein und 100 Millionen Kubikmeter Sand bräuchte, dazu weitere Materialien.
Logistik spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Notfallversorgung von Gemeinden, die von Extremwetterereignissen betroffen sind. Im Bereich der humanitären Hilfe verursachen Logistikaktivitäten normalerweise 60-80% des Gesamtaufwands. Im Jahr 2018 waren 108 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe aufgrund von Überschwemmungen, Stürmen, Dürren und Flächenbränden angewiesen – laut der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung könnte sich diese jährliche Zahl bis 2050 verdoppeln.
Zunehmend muss die humanitäre Logistik auch Gemeinden unterstützen, die von einer langfristigeren Schädigung ihrer landwirtschaftlichen Systeme betroffen sind oder von wachsenden Flüchtlingsströmen aufgrund des Klimawandels. So haben laut Schätzungen der UN Refugee Agency (UNHCR) 2019 fast 25 Millionen Menschen in 140 Staaten aufgrund von „Wetterbedrohungen“ ihre Heimat verloren.
Dekarbonisierung und Sequestrierung
Die Logistik spielt eine zentrale Rolle für die Dekarbonisierung der gesamten Gesellschaft. So müssen beim Aufbau einer Infrastruktur für erneuerbare Energien riesige Mengen an Material bewegt werden – viel davon über weite Entfernungen und komplexe Lieferketten. Allein 2018 hat der Bau von Onshore- und Offshore-Windkraftanlagen in der EU 26 Millionen Tonnen an „Strukturmaterialien“ verschlungen. Bis 2030 soll diese Zahl um das 2,3-fache steigen.
Da die Stromerzeugung durch Wind- und Solarenergie stärker auf verschiedene geografische Regionen verteilt ist als beispielsweise der Kraftwerkbetrieb mit fossilen Brennstoffen, ist der damit verbundene Logistikbedarf entsprechend größer. Teilweise wird der zusätzliche Bedarf, der durch Aufbau und Wartung der neuen Infrastruktur entsteht, durch den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen aufgehoben. So entfielen 2015 noch 29 % der internationalen Gütertransporte auf Kohle, Erdöl und Gas – 2050 werden es Schätzungen zufolge nur noch 8 Prozent sein.
Auch bei den Bestrebungen zur CO2-Sequestrierung kommen auf die Logistik große Aufgaben zu. Nur wenn diese erfüllt werden, können wir die Net-Zero-Ziele, die für mittlerweile 92% der Weltwirtschaft gelten, erreichen.
Zur Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (CDR) existieren verschiedene Techniken, die unterschiedlich ausgereift sind. Sie in der benötigten Größenordnung auszurollen, würde die logistischen Möglichkeiten bis an ihre Grenzen fordern. Wir müssen daher Lieferketten für die CO2-Abscheidung und -Speicherung schaffen, die die Netto-CO2-Entnahme auch dadurch maximieren, dass sie die von der relevanten Logistik erzeugten Emissionen minimieren.
Betrachtet man beispielsweise den gesamten Lebenszyklus der direkten Abscheidung und Speicherung von CO2 aus der Umgebungsluft (DACCS), so ist dies ein extrem logistikintensiver Prozess. Würde man ihn entsprechend der IPCC-Prognosen betreiben, müssten Tausende von CO2-Entnahmeanlagen hergestellt und errichtet werden, was wiederum komplexe vorgelagerte Lieferketten involvieren würde.
Die Chemikalien, mit deren Hilfe die DACCS-Infrastruktur das CO2 aus der Luft entnimmt, würden zudem ein erhebliches zusätzliches Frachtaufkommen bedeuten. Eine Abhandlung aus dem Jahr 2020 schätzt für die Speicherung von 30 Milliarden Tonnen CO2 den folgenden Chemikalienbedarf: 22 Milliarden Tonnen Ammoniak, 6,9 Milliarden Tonnen Natriumhydroxid und 4,4 Milliarden Tonnen Ethylenoxid.
Das entfernte CO2 muss dann in flüssiger Form irgendwo gespeichert werden. Idealerweise fänden Entnahme und Speicherung – oder Verwendung – am selben Ort statt, sodass man auf weitere Transporte verzichten könnte. In der Praxis sieht das anders aus: Sequestrierung, Speicherung und Verwendung haben ganz unterschiedliche Anforderungen und finden daher weit entfernt voneinander statt. Die erforderlichen Transporte erfolgen in erster Linie über Pipelines und per Schiff.
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht legt nahe, dass Europa bis 2050 ein 15.000 - 19.000 Kilometer umspannendes Transportnetzwerk brauchen wird, um CO2 von 100 - 120 potenziellen „Entnahme-Clustern“ zu etwa 100 Speicherstätten zu transportieren.
Und selbst der großangelegte Einsatz von solarem Geoengineering wäre ohne Logistik undenkbar. So kommt beispielsweise eine Studie aus dem Jahr 2018 zu Taktiken der Stratospheric Aerosol Injection (SAI) zu dem Schluss, dass die Halbierung des durch die Menschheit verursachten Klimaeinflusses innerhalb von 15 Jahren allein im ersten Jahr 4.000 SAI-Flüge erfordern würde – und jedes Jahr kämen 4.000 weitere hinzu.
Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass es derzeit „keine Flugzeuge gibt, die so konstruiert sind, dass sie diese Mission sinnvoll ausführen könnten – selbst dann nicht, wenn man sie umfassend modifizieren würde“. Sie schreiben allerdings auch, dass „die Entwicklung eines neuen, zweckgemäßen Tankflugzeugs mit erheblicher Nutzlast weder technisch schwierig noch unerschwinglich teuer wäre“.
Prof. Alan C. McKinnon
Alan C. McKinnon ist Professor für Logistik und Ehrensenator an der KLU. Er ist seit 2012 Teil der KLU-Fakultät und lehrt, forscht und berät seit 1979 im Bereich Logistik. Im Laufe von mehr als vier Jahrzehnten hat er ein breites Spektrum von Logistikthemen erforscht. Sein langjähriges Interesse an den Umweltauswirkungen der Logistik gipfelte in den letzten Jahren in Forschungsarbeiten zu den Möglichkeiten der Dekarbonisierung der Logistik und der Notwendigkeit, Logistiksysteme an den Klimawandel anzupassen.
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